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VR

MEDICUS

Noch nie gab es so viele Ärzte in Deutschland wie heute, aber

gleichzeitig wächst der Ärztemangel auf dem Land. Ärzte-

präsident Frank Ulrich Montgomery präsentierte beim 8. Ärz-

te- und Apothekertag der VR-Bank Kreis Steinfurt eG gleich

ein ganzes Bündel möglicher Gegenstrategien. Sein Rat: Alte

Zöpfe abschneiden, innovativ denken und die Bevölkerung

aufklären, dass manches künftig nicht mehr leistbar sein wird.

Ein Patentrezept gegen den Ärztemangel hatte Ärztepräsi-

dent Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery nicht mitgebracht.

Wohl aber ein ganzes Bündel möglicher Therapie-Ansätze.

Doch vorher müsse die Diagnose stimmen – ein unbedingtes

ärztliches Privileg, auch in Zeiten einer immer stärkeren Auf-

gabenverlagerung auf medizinisches Fachpersonal.

So nahm sich Montgomery vor 130 Gästen viel Zeit für eine

Analyse der Ausgangssituation. Die Arztdichte in Deutschland

habe kräftig zugenommen: Gab es 1870 noch nur 31 Ärzte

pro 100.000 Einwohner, waren es 100 Jahre später schon 170,

im Jahr 2000 358 und heute 457. Aber: Die Zahl der Hausärzte

sinkt kontinuierlich – von 54.090 im Jahr 2001 auf 48.475 in

2015. Gleichzeitig steigt das Durchschnittsalter der Vertrags-

ärzte von 46,6 Jahren in 1993 auf 53,3 Jahre in 2014. Die allge-

meine Jahresarbeitszeit sank von 1.956 Stunden in 1970 auf

1.358 in 2005. Es gehe bei Jungmedizinern nicht mehr darum,

zu „arbeiten, um zu leben“ und auch nicht um „leben, um zu

arbeiten“, sondern „Ich will schon beim Arbeiten leben“. Das

stelle die Arbeitgeber „vor ganz neue Herausforderungen“.

Hinzu komme der steigende Anteil weiblicher Mediziner, die

nicht volltags arbeiteten. „Das alles führt dazu, dass wir mehr

Menschen brauchen“, befand Montgomery. Von 2000 bis

2013 habe es zwar 21,2% mehr Ärzte gegeben, aber nur 3%

mehr Arbeitsstunden.

Natürlich brauche es deshalb mehr Medizinstudenten, min-

destens 1.000 pro Jahr. Und der Numerus Clausus müsse

hinterfragt werden – Assessment-Center, wie sie die Bundes-

wehr bei der Offiziersauswahl einsetze, seien ein interessan-

ter Weg, befand Montgomery. Kritisch sieht der Ärztepräsi-

dent den Trend zu immer mehr Fachärzten: „Wir produzieren

nur noch Spezialisten und übersehen dabei, dass wir ganz

viele Generalisten für die Versorgung der Bevölkerung brau-

chen, Menschen, die nicht nur Herzen transplantieren kön-

nen, sondern die mit dem Herzen bei der Arbeit sind.“ Für

solche Sätze gab es Beifall aus dem Publikum, so wie über-

„Alte Zöpfe abschneiden und innovativ denken“

Ein mitreißender Redner, gewiefter Politiker und fachkundiger Mediziner: In dieser Kombination ist Ärztepräsident

Frank Ulrich Montgomery ein gefragter Ratgeber und Diskussionspartner in allen gesundheitspolitischen Fragen.

ärzte- und Apothekertag 2016.

haupt Montgomery mit einer Mischung aus Nonchalance,

wissenschaftlicher Exaktheit und humorvollen Einsprengseln

einen äußerst unterhaltsamen Vortragsstil pflegt. Dazu ge-

hört, dass er auch mal Privates preisgibt, von der Freundin in

Münster zu Studienzeiten, über seinen Abi-Schnitt von 2,2 bis

zum Bekenntnis, HSV-Fan zu sein und den FC Liverpool gut zu

finden, weil ein Teil seiner Familie von dort stamme.

Wie aber nun dem Ärztemangel auf dem Land begegnen?

Montgomerys wichtigster Rat: Alte Zöpfe abschneiden! Dazu

gehöre, Niederlassungen zu erleichtern und Bedarfsplanun-

gen zu verbessern. Angestellte Ärzte hätten auch im ambu-

lanten Bereich, in medizinischen Versorgungszentren, ihre

Berechtigung, denn: „Die Niederlassung als Lebensziel wird

nachrangig zugunsten angestellter Beschäftigung.“ Teilzeit-

niederlassungen sollten möglich und die Residenzpflicht auf-

gehoben werden. Vorhandene stationäre Strukturen könn-

ten, wo nötig, auch ambulant genutzt werden. Denn es gehe

auch darum, innovativ zu denken. Warum nicht auf dem Land

eine Arztpraxis einrichten, die tageweise wechselnd vom

Hausarzt und verschiedenen Fachärzten genutzt wird? War-

um nicht manche Hausbesuche an speziell ausgebildete Kran-

kenschwestern delegieren? Warum nicht für Anreize sorgen,

indem man den Familienangehörigen eines Arztes bei der Ar-

beitsplatzsuche hilft? Und auch das gehöre zur Wahrheit: Die

Bevölkerung darüber aufzuklären, dass es eben nicht mehr

die Arztdichte wie früher auf dem platten Land geben wird.

Insbesondere Facharztangebote würden sich auf Kreis- und

Mittelstadtebene konzentrieren, hoch spezialisierte Versor-

gung werde es nur noch in Ballungszentren geben.

Quelle: Westfälische Nachrichten, Achim Giersberg

Großer Zustrom erlebte der diesjährige Ärzte- und Apothekertag,

bei dem Ärztepräsident Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery über

den Ärztemangel auf dem Land sprach.